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Theater Jugend Medien
Theater Chat - Augenblick Mal ! 7. Deutsches Kinder- und Jugendtheater-Treffen 2003 in Berlin

 


Erfahrungsbericht
Wenn Figuren und Geschichten des Theaters im Chat-Room landen

von Andreas Horbelt, München
 
 
 
 
Anlässlich des 7. Deutschen Kinder- und Jugendtheater-Treffens ‚Augenblick Mal !' Anfang Mai 2003 in Berlin hat das Projekt ‚Theater Chat' des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeiten und Grenzen des Theaters im Netz erprobt. Dabei sollten auch die Figuren des Kinder- und Jugendtheaters popularisiert und neues Publikum an neuen Orten angesprochen werden. Achtmal traf sich das Projekteam - Dr. Jürgen Kirschner (Projektleitung), Inga Betten und Julia Hillgärtner (Projektmitarbeit und Grafik), Andreas Horbelt (Wissenschaftliche Beratung) mit interessierten Jugendlichen aus ganz Deutschland im Palace-Chatroom ‚Cyberland' des wannseeFORUMs Berlin www.virtuellewelt.de. Der vorliegende Erfahrungsbericht will mit praktischen Hinweisen zur Konzeption und Arbeitsweise weitere Schritte bei der Begegnung von Chat und Theater erleichtern.
 
[Bild 1: Wir präsentieren Ihnen…]  
 
Chat-Kultur
 
Technische Voraussetzung für das Projekt war das kostenlose 2D-Chatsystem ‚Palace'. Ursprünglich von Time Warner Interactive betrieben, wird es seit dem Jahr 2000 nicht mehr weiterentwickelt. Obwohl inzwischen schon diverse 3D-Systeme auf dem Markt sind (z.B. Cybertown, Active Worlds), erfreut sich Palace nach wie vor hoher Beliebtheit im Netz: Es bietet mehr optische Reize als ein textbasierter Chat, ist aber nicht so komplex und behäbig wie die 3D-Systeme.
 
[Bild 2: Palace]  
 
Besucher eines Palace-Chatrooms verfügen über kleine comicartige Figuren, ‚Avatare', die sich beliebig durch die Chatwelt steuern lassen und die jederzeit sehr einfach veränderbar sind. Vor allem bei Heranwachsenden ist das Palace System beliebt. Die wenigen speziell für Jugendliche entwickelten Chatrooms, die den Crash der New Economy überlebt haben, arbeiten mit diesem oder ähnlichen Systemen. Detaillierte Infos zum Palace und der benötigten Palacesoftware finden sich unter www.virtuellewelt.de.
Die Unterhaltung in so einem Chatroom ist von nicht zu unterschätzender Komplexität. Alle reden durcheinander, die Sätze sind gezwungenermaßen extrem kurz, die Kommunikation sprunghaft. Dazu kommen Besonderheiten wie Akronyme (z.B. lol = laughing out loud), Emoticons und die speziellen Möglichkeiten des Palace: Man kann flüstern und schreien, sich zu anderen Usern ‚beamen', sein Aussehen und auch seinen Namen verändern, Gegenstände und Avatare verschenken und anderes mehr.
Entscheidend ist auch die Anonymität der Kommunikation im Chat. Die User sind lediglich charakterisiert durch ihren (selbstgewählten) Nickname und das (ebenfalls selbstbestimmte) Aussehen ihres Avatars. Eine Rückkopplung an die Realität findet nur bedingt statt, Flunkereien und Verstellungen sind an der Tagesordnung. Lediglich durch die Kommunikationsinhalte lassen sich z.B. angeblich 16jährige als 12jährige enttarnen, ohne dass sich für solche Vermutungen ein endgültiger Beweis erbringen ließe. Und auch der hohe Verbreitungsgrad von Nicknames wie ‚sexygirl' oder ‚coolboy' weist auf die Bedeutung der (Selbst?)Inszenierung für die Kommunikation hin. Hier probieren Jugendliche andere, bessere Identitäten aus, wie schon Sherry Turkle in ihrem Buch ‚Leben im Netz' feststellte. Chatten ist aus dieser Perspektive ein extrem theatrales Phänomen, hier wird immer und jederzeit Theater gespielt.
Insgesamt scheint es angebracht, von einer eigenen Chat-Kultur zu sprechen (die auch noch von Chatroom zu Chatroom variiert). Es braucht einige Zeit, die spezifischen Kommunikationsregeln und Bräuche eines Chatrooms zu erlernen. Denn wer die unausgesprochenen Regeln eines Chats nicht kennt oder nicht beachtet, der verhält sich wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen und wird zwangsläufig auf negative Reaktionen stoßen - nicht wegen dem, was er sagt, sondern wegen der Art, wie er es sagt.
Es gilt also schon bei der Vorbereitung eines solchen Projektes, eigenständig oder durch Hinzuziehen fachlich versierterKräfte, die technischen wie kulturellen Regeln eines Chats zu lernen, sich einen Überblick über die Regulars und ihre Themen zu verschaffen, Bekanntschaften zu schließen und auf der Basis all dieser Erfahrungen eine passende Konzeption zu erarbeiten.
 
 
Theater im Chat
 
Das Vorgehen des ‚Theater Chat'-Projektes war von vornherein als ‚Trial and Error'-Verfahren angelegt. Die im wöchentlichen Abstand angebotenen Improvisationen wurden jeweils auf Basis der neuen Erkenntnisse verändert. Als Ausgangspunkt waren folgende Grundsätze verabredet worden:
Aus organisatorischen Gründen hat das Team nicht mit Jugendlichen vor Ort gearbeitet (um dann mit ihnen gemeinsam in den Chat zu gehen), sondern die Jugendlichen, die ohnehin im Chatroom waren, zum Mitspielen bewegt. Zusätzlich wurde ‚Online-Marketing' unternommen, um weitere Interessenten in den Chatroom zu locken.
Konzeptionell wurde mit ‚möglichst viel Theater' angefangen, um dann bei Bedarf einzelne Elemente wegzulassen. Durch das Mittel der ästhetischen Differenzierung sollten die Aktionen im theatralen Umfeld des Chats überhaupt als Theater erkennbar sein. Julia Hillgärtner und Inga Betten entwarfen dafür einen eigenen Theaterraum inklusive Foyer und eigene Figuren. Die Figuren unterschieden sich deutlich von den im Cyberland sonst verwendeten Avataren und wurden auch mit speziellen Requisieten ausgestattet.
Vorlage für die Avatare waren Figuren aus den zum 7. Deutschen Kinder- und Jugendtheater-Treffen eingeladenen Gastspielen. Je zwei Figuren wurden ausgewählt und durch einen (meist am Stück angelehnten) Konflikt miteinander verbunden. So entstanden kurze Szenarien, die den Ausgangspunkt für die Improvisationen der Mitspieler bieten sollten. Ein Szenario war beispielsweise der ‚Cyrano de Bergerac' zugrundeliegende Konflikt: Cyrano liebt Roxane. Roxane wiederum erhält wunderschöne Liebesbriefe von Christian, die allerdings Cyrano für ihn geschrieben hat…
Das ursprüngliche Konzept sah vor, die User, die sich im Chatroom befanden, in den Theaterraum einzuladen. Dort wurden sie gefragt, wer mitspielen möchte, die Spieler bekamen die ‚Kostüme' und die notwendigen Informationen über den Plot und sollten dann fünf Minuten improvisieren. Für diesen Vermittlungsprozess gab es auch Figuren mit Informations- und Regiefunktion.
 
[Bild 3: Einladung im Theaterfoyer]  
 
[Bild 4: Vorbereitung in der Garderobe]  
 
Einfach statt komplex
 
In der Praxis stellte sich dieses Vorgehen teilweise als problematisch heraus. Zwar waren die Jugendlichen extrem an dem Projekt interessiert, sie waren regelrecht ‚geil' auf Abwechslung, doch genauso schnell wie sie sich für das Projekt begeisterten, verloren sie das Interesse daran, wenn es nicht ihren Erwartungen entsprach. Die Bereitschaft, sich in das Vorhaben einführen zu lassen oder die (manchmal etwas mühsame) Entwicklung eines Dialogs abzuwarten, war gering.
Auch zeigte sich, dass der Begriff ‚Theater' auf wenig Gegenliebe stieß. Fast alle Angesprochenen hatten keine Lust, Theater zu spielen. Lud man die Chatter dagegen zu einem ‚Rollenspiel' ein, waren die Reaktionen positiver.
Dazu kam die immer noch unterschätzte Komplexität der Kommunikation. Es stellte sich als schwierig heraus, den Jugendlichen kurz und bündig die Szenarien und Regeln des Improvisierens zu vermitteln. Spieler verschwanden wieder oder verstanden schlicht nicht, was sie tun sollten. Daraufhin wurden die Szenarien noch weiter verkürzt.
Auch bei der Wahl der Themen zeigten sich Vorlieben: So waren Themen, die in ihrer Art an die Kommunikation im Chat angelehnt waren (die also auch realiter in einem Chatroom ablaufen könnten und deren Figuren und Probleme nicht allzu weit von denen der User entfernt waren) leichter zu vermitteln als Themen, die einen fiktionalen Rahmen vorgaben (z.B. Mutter-Vater-Kind-Szenarien).
Da die Mitspieler und Rezipienten der Aktion über ganz Deutschland verstreut waren, ergab sich eine erhöhte Verantwortung bei der Wahl der Themen und der dargestellten Konflikte. Schließlich konnte wegen der beschnittenen Kommunikation nicht überschaut werden, wie die Themen bei den Usern ‚ankamen'. Daher wurde z.B. auf die Thematisierung von Rechtsradikalismus über negative Rollen verzichtet.
 
 
Anregen statt reglementieren
 
Entscheidend hing das Gelingen der Improvisationen aber von den jeweiligen Mitspielern ab. Während manche Spieler schlicht mit dem Improvisieren überfordert waren, ergaben sich bei anderen teilweise sehr schöne, runde Szenen.
Durch die Offenheit der Situation hatten die Mitspieler einen enormen Einfluss auf das Geschehen. Manchmal wurden von den Beteiligten komplett neue Aktionen erfunden. So ergaben sich wilde Jagden durch alle Räume des Chatrooms, wobei die Darsteller von ihrem Publikum verfolgt wurden. Schauspielszenen wurden zu Quizspielen und einmal wurde eine Modenschau in Szene gesetzt, bei der die Beteiligten um das beste Kostüm zu einem Thema wetteiferten.
Immer mehr entwickelte sich die Einbindung auch des Publikums zum entscheidenden Kriterium der Aktionen, denn Mitmachen ist unterhaltsamer als Zusehen. Neue Ansätze wie die oben genannten ‚Spiele' ermöglichten auch die Einbindung vieler Chatter. Je weniger Verhaltensregeln vorgegeben wurden (und Theater ist aus dieser Perspektive auch ein Sortiment von Verhaltensregeln), desto leichter konnten die Zuschauer zum Mitmachen bewegt werden. Feste Regeln dagegen führten oft zu Kritik und ‚Sabotageversuchen' wie dem Überfluten des Theaterraumes mit abgelegten Avataren.
 
[Bild 5: Roxanes Hochzeit]  
 
[Bild 6 Kostümwettbewerb]  
 
Kostümwettbewerb
 
So wurde am letzten Tag schließlich nicht mehr im Theaterraum, sondern im Eingangsbereich des Cyberlands gespielt. Die Figuren hatten nur noch teilweise besondere Kostüme an. Teammitglieder spielten Szenen an und versuchten, möglichst viele Chatter zum Mitmachen zu bewegen, also Partei zu ergreifen, sich in das Gespräch einzuschalten und den Konflikt zu lösen. Für die Chatter war dabei nur noch schwer zu erkennen, dass es sich um eine Theateraktion handelte.
Obwohl im angloamerikanischen Raum schon ähnliche Theaterexperimente durchgeführt wurden (www.desktoptheater.org), lag der Verdienst des Theaterchat-Projektes auch darin, die grundsätzlichen Möglichkeiten des Theaters in Chatumgebungen praktisch zu erproben und Erfahrungen für weitere Projekte zu sammeln. Generell kann das Projekt als Erfolg gewertet werden. Die verschiedenen Herangehensweisen, die erprobt wurden, führten immer wieder zu interessanten Szenen. Es ergaben sich spannende Berührungspunkte zwischen Theater und Chatrooms und eine vollkommen neue Möglichkeit, mit Jugendlichen zu kommunizieren und mit ihnen kreativ zu arbeiten. Die Resonanz der User war überwiegend positiv.
 
 
Zwei Strategien für die Zukunft
 
Zumindest anfangs mit einer festen Gruppe von Jugendlichen vor Ort zu arbeiten, bietet einige Vorteile. Denn dies würde die Kommunikation erleichtern und komplexere Projekte zulassen, z.B. auch am traditionellen Theater orientierte Aktionen. Potentielle Akteure könnten Gruppen an Medienzentren oder Theatergruppen an Schulen sein.
Gerade für das Darstellende Spiel innerhalb oder ausserhalb der schulischen Bildung verspricht Theater Chat interessante neue Erfahrungen. Künstlerische und strukturelle Verabredungen, die in der konventionellen Probenarbeit unausgesprochen bleiben, werden im neuen Medium eher angesprochen und dadurch bewußt. Daneben können die Rollen in Konzentration auf den Text oder im Gewand des anderen Geschlechtes (Genderswapping) erlebt werden.
Dazu kommt auch noch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Computer. Schon das Erstellen eigener Räume, Figuren, Requisiten und Sounds erfordert einiges Geschick mit Grafik- und Soundprogrammen und fördert damit die eigene Kreativität im digitalen Bereich. Und durch die Anwendung theatraler Formen und Prozesse läßt sich der Computer auch als Kulturraum zu entdecken.
Sobald das Projekt über abgeschlossene Bereiche des Chats hinausgeht, müssen auch die Bedürfnisse des Online-Publikums berücksichtigt werden. Dies ist in Projekten der Fall, die sich eher am Straßentheater orientieren. Hierbei realisiert eine kleine Gruppe von Akteuren Theateraktionen für das Online-Publikum (vgl. hierzu Augusto Boals Konzept des ‚Unsichtbaren Theaters'). Ziel der Aktionen könnte eine Erweiterung der gegebenen Chat-Kultur durch neue Figuren, andere Texte - vom klassischen Drama bis zum Songtext - bzw. Töne sein.
Denkbar sind solche Auftritte als Endpunkt der oben beschriebenen Gruppenarbeiten oder als Projekt von semi/professioneller Theaterarbeit. Allerdings stellen sich damit auch weitere Fragen: Wo liegen die moralischen Grenzen, wenn sich erwachsene Spieler als Jugendliche ausgeben? Wie ließen sich solche Aktionen am Ende auflösen? Und wie geht man mit dem mangelnden Feedback durch die Begrenzung der Kommunikation im Chat um? Aber nicht zuletzt diese Fragen deuten daraufhin, dass die auch die Fortsetzung dieses Weges weiterhin spannend und interessant bleibt.
Für das zurückliegende Projekt gilt unser Dank Michael Lange vom wannseeFORUM. Wannseeheim für Jugendarbeit e.V. und dem Internetcafé Netti in Berlin, Christof Heun vom Medienzentrum Frankfurt e.V. und allen, die dem Projekt mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben - sowie unseren MitspielerInnen im Cyberland, die mit Geduld unsere ersten Schritte im Chat ertragen haben ;-)
 
[Bild 7: Applaus]  
 
Literatur zum Thema
 
Bechar-Israeli, Haya: From to . Nicknames, Play, and Identity on Internet Relay Chat. In: Journal of Computer Mediated Communication, Volume 1, Issue 2, 1995,
http://www.ascusc.org/jcmc/vol1/issue2/bechar.html
Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, Frankfurt a.M. 1989 Danet, Brenda: Cyberpl@y: Communicating Online. Oxford 2001 Horbelt, Andreas: On the Internet, nobody knows you're a dog. Überlegungen zum Theater im Internet. Vortrag an der Akademie Schloss Solitude, Stuttgart, 27.05.2003,
http://www.luftschiff.org/Theater/mixedreality/Vortrag/main.html
Horbelt, Andreas: All the world's a unix term. And all the men and women merely irc addicts. Das Virtuelle Theater der Hamnet Players und ihrer Nachfolger, 2002,
http://www.theatermaschine.net/netzwerk/theorie/hamnet1.htm
Horbelt, Andreas: Theater und Theatralität im Internet, München (Magisterarbeit) 2001,
http://www.netzwissenschaft.de/media/thea.pdf (3,5 MB!)
Laurel, Brenda: Computers as Theatre, Reading 1993
Murray, Janet H.: Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace, New York 1996
Sandbothe, Mike: Theatrale Aspekte des Internet. Prolegomena zu einer zeichentheorethischen Analyse theatraler Textualität. In: Göttlich, Udo; Nieland, Jörg-Uwe und Schatz, Heribert (Hrsg.): Kommunikation im Wandel. Zur Theatralität der Medien, Köln 1998, S.209-226
Schrum, Steven A. (Hrsg.): Theatre in Cyberspace. Issues of Teaching, Acting, and Directing, New York 1999 Turkle, Sherry: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, Reinbek 1999
Wunderer, Monika: Die virtuellen Bretter der Welt: Theater in Public Space, Wien (Diplomarbeit) 1997, http://phaidon.philo.at/~wunderer/bretter/
 
 
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