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Kinder- und Jugendtheater und sein Publikum

 


Mehr Meer!
Spurensuche5 in Flensburg

von Jürgen Kirschner, Frankfurt am Main
 
 
 
 
Veröffentlicht in: kulturpolitische mitteilungen III/2000, S. 56
 
 
 
 
"Nichts scheint mehr gesichert!" Aus dieser skeptischen Haltung heraus stellte die ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland die Werkstätten ihres 5. FreiesKinderTheaterTreffen in Flensburg und auf dem Jugendhof Scheersberg in einen produktiven Bezug zu Albrecht Dürers Kupferstich 'Melancholie 1'. Bei den Ensemblegesprächen im Anschluß der Aufführungen, dem Austausch mit der dänischen Szene im Theater Møllen in Haderslev und beim Podiumsgespräch mit Psychologen aus Schule und Erziehungsberatung hatten die aufgeworfenen ästhetischen wie gesellschaftlichen Fragestellungen auch immer die ZuschauerInnen im Blick -. Da das Publikum auch einer der aktuellen Arbeitsschwerpunkte des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland ist, konnte ich Vertreter vorwiegend der gastierenden Ensembles befragen: Ist das Publikum das unbekannte Wesen oder das vertraute Gegenüber?
Wenn Theater, wie Crischa Ohler & Sjef van der Linden vom Theater mini-art e.V aus Bedburg-Hau in Erinnerung riefen, Kinder dort abholen will, wo sie sind, beginnt der Kontakt meist schon weit vor der Premiere. Durch Recherchen und Theaterprojekte mit Kindern bzw. Jugendlichen werden Produktionsideen konkretisiert, durch Beobachtungen in den Aufführungen - auch bei Try-Outs - und Gespräche vor bzw. nach dem Aufführungsbesuch wird die Wirkung überprüft. Da die ZuschauerInnen nicht nur ihre eigene Haltung beurteilen, sondern z.B. auch Erwachsene über Kinder und umgekehrt Kinder über Eltern und LehrerInnen urteilen, offenbaren sich so komplexe Beziehungsmuster.
 
Kindheit und Jugend im Wandel
 
Den gesamten Arbeitsprozess begleitet die Frage nach der Reife des Publikums. Gemessen an Altersstufen werden Stücke vom Verlag, Inszenierungen vom Theater und Aufführungen von den VeranstalterInnen eingeordnet. Unstrittig ist allein das Spiel für die Grundschulkinder. Doch ab welchem Alter kann Theater für die 'Allerkleinsten' gespielt werden und ab welchem Alter wechselt das Publikum zum Schauspiel und den anderen Sparten des Stadttheaters? Dazu berücksichtigen die Produktionen, so das Theater Gruene Soße aus Frankfurt am Main, häufig auch die begleitenden Erwachsenen bzw. die über den Aufführungsbesuch entscheidenen Eltern und LehrerInnen als weitere Publikumsgruppe. Bei einem in der Regel sehr spezialisierten Spielplan für einen Teil der möglichen Altersgruppen ist die Kombination mit Angeboten für Erwachsene meist ein Anliegen der Theater zur Abrundung der künstlerischen Arbeit. Daneben haben die Theater, darauf weißt Elisabeth Bohde von der mitveranstaltenden Theaterwerkstatt Pilkentafel hin, mit einem stets im Wandel begriffenen Publikum zu tun. Die Angebote der Theater treffen auf neue, durch Aktivität und Digitalität geprägte und sozial ausdifferenzierte Weltsichten. Kindheit und Jugend begegnen den Theatern auch in den Stücktexten sowie bei der Stückentwicklung und im Regieprozess im Rekurs auf die eigene Kindheit, Erfahrungen als Mütter resp. Väter und im pädagogischen Umgang mit Kindern. Im Einzelfall kann diese Reflexion auch zu einem strikt autobiografischen Inszenierungsansatz führen.
 
Aufführungen als Dialog
 
Das freie Kinder- und Jugendtheater will Fragen stellen, nicht Antworten geben. Statt traditionellem Theater, so führt Sonka Müller vom Theater Patati-Patata aus Reutlingen aus, wird Ungewohntes und Fremdes geboten. Von erprobten ästhetischen Mustern finden die Theater zu experimentellen Formen der Darstellung. Kindern und Jugendlichen werden auf diese Weise neue oder verlorene Räume geöffnet. Das Theater fördert - ergänzend zu den gesellschaftlichen Anforderungen in Elternhaus und Schule - Identität durch die Betonung anderer Fähigkeiten wie das Recht auf Imagination. Dabei steht nicht immer die wiederholbare Aufführungsserie, sondern manchmal auch die stete Weiterentwicklung der Inszenierung unter Einbezug der Publikums(re)aktionen im Vordergrund. Damit wird die Aufführungssituation in Richtung einer weitergehenderen Partizipation des Publikums vom Miterleben aus der klar umrissenen Publikumsrolle der jeweiligen Inszenierung heraus zur Mitgestaltung jeweils individueller Aufführungen auf der Grundlage eines Angebotes des Theaters verschoben. Unter den Gastspielen in Flensburg hat das Theater o.N. aus Berlin mit 'Der kleine Häwelmann' diesen Weg am konsequentesten beschritten. Eine durch Nebeneinanderstellen verschiedener Spielebenen transparente Spielweise lädt das Publikum ein zum Dialog, das bereitwillig die Thematik des Stückes: 'Mehr! Mehr!' aufgreift. Indem dieses Theater bei jeder Aufführung die Grenzen neu austarieren muß, gewinnt das Theater ein Stück seiner Ursprünglichkeit zurück. Denn Theater ist eben - wie an anderer Stelle eingeworfen wurde - keine Versicherungsanstalt.
 
Intuition und Empirie
 
Trotz der beschriebenen Faktoren der Verunsicherung ist die Haltung der TheatermacherInnen für Kinder und Jugendliche nicht von Selbstzweifeln geprägt. Dies verhindert auch der bewußte Umgang des Theaters für Kinder und Jugendliche mit seinem Publikum. Standardisierung, Differenzierung und Ergänzung der Untersuchungen der Theater, ihre interdisziplinäre Ausweitung auf andere Kultursparten und den allgemeineren Einbezug von sozial- und gesellschaftswissenschaftlichem Fachwissen könnten deshalb auch die Weiterentwicklung dieser Theaterformen erleichtern.
 
 
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