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Kinder- und Jugendtheater und sein Publikum |
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Erfolgreich: Anspruchsvolles Theater für Kinder von Jürgen Kirschner, Frankfurt am Main 1993 |
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Kinder brauchen Theater, das sie ernst nimmt. Dieses Theater ist authentisch, es belehrt nicht. Die Kinder finden sich im Theaterereignis wieder. Dieses Theater ist komisch, es unterhält nicht. Im Lachen distanzieren sich die Kinder von dem Bühnengeschehen und nähern sich der Geschichte der Aufführung. Dieses Theater kann absurd und darf realistisch sein. Die Nähe zur eigenen Welt liegt für die Kinder in der traumhaften Anlage des Stückes. Dieses Theater ist Familientheater. Es entfaltet seine Wirkung vor allem, wenn die Erwachsenen sich auf das Theater, das für die Kinder Stellung nimmt, einlassen. Dieses Theater ist für das Publikum wie für die Theater selbst erfolgreiches Theater. Es ist folgenreiches Theater. |
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Das Publikum im Theater für junge ZuschauerInnen wird generell ernster genommen als das erwachsene Publikum. Eltern und Erzieher, Theatermacher und Veranstalter, sie alle bedenken die Kinder mit, wenn sie ein Theaterereignis ermöglichen. Die eigenen Erfahrungen und unterschiedliches Fachwissen fließen ein in die Entscheidungen, die zu einem kindgerechten Theaterereignis führen sollen. In der Diskussion darüber, was gut für die Kinder ist, finden sich alle Positionen zwischen ästhetischen Konzepten, die die kindlichen Adressaten unbeachtet lassen, bis zur Pädagogisierung des Theaters. Nur was tatsächlich während der Aufführung mit den Kindern passiert, wird zumeist ausgeklammert, weil darüber zu wenig bekannt ist. Eine Studie von Kristin Wardetzky zur Rezeption von Heleen Verburgs 'Winterschlaf' in zwei Inszenierungen an der SCHAUBURG, dem Theater der Jugend in München, und dem Ost-Berliner carrousel Theater an der Parkaue bringt hierzu in der Tradition der Rezeptionsforschung der DDR neueste Erkenntnisse, die in Zukunft die Überlegungen zum Theater für Kinder mitbestimmen werden. Kinder lieben das heitere, leichte Spiel von Clowns und Kasperlfiguren. Doch Kinder brauchen auch den Zugang zu ernsten Geschichten, die sie selbst betreffen. Das Stück 'Winterschlaf' zeigt existentielle Konflikte zwischen Eltern und Kindern: Verweigerung der elterlichen Fürsorge und Nähe, Überforderung des Kindes durch Rückzug der Eltern auf sich selbst, (gescheiterte) Ausbruchs- und Ablösungsversuche, schmerzhaftes, mit Schuldgefühlen verbundenes Autonomiestreben. Mit Gewinn beschäftigen sich die Kinder mit diesen, in den zivilisierten Gesellschaften universellen, Konflikten der Ablösung des Kindes aus der Kleinfamilie. Kinder fordern die Nähe zur Realität. Doch sie fordern damit nicht notwendigerweise das naturalistische oder das realistische Theater. Sie folgen ebenso einem Stück, das die in ihrer Umgebung häufige Katastrophe der Vereinsamung des Kindes in der Familie mit absurden Mitteln auf die Bühne stellt. Die eingeforderte Authentizität der Darbietung liegt für die Kinder nicht in dem äußeren Ablauf, sondern in der traumähnlichen Struktur der Darstellung. Die Beschäftigung mit dem alptraumhaften Geschehen auf der Bühne wird für die Kinder möglich durch die komische Brechung des Dargestellten. Wie im Märchen das happy-end die vorangegangenen Grausamkeiten konsumierbar macht, können sich hier die Kinder durch befreiendes Lachen von dem bedrückenden Handlungsablauf distanzieren. Aus dieser gesunden Entfernung gewinnen sie den Überblick über alle bedeutsamen Teile des Dramas. Je nach Stand ihrer psychischen Entwicklung, setzen die Kinder manchmal andere Akzente als die Theatermacher, verschieben oder ersetzen die auf die Bühne gebrachten Botschaften. So wurde statt der Problematik des kindlichen Ablösungsprozesses von den Eltern mitunter die mangelnde Liebe im gestörten Familiendreieck zum Thema der Kinder. Und ein Schluß der Inszenierung, der den Rückweg des Kindes zu den Eltern verbaut, wurde von den ZuschauerInnen nicht akzeptiert. Umgekehrt fordern die Kinder manchmal eine Gewißheit ein, die das Theater nicht einlösen kann. So wurde der Aufbruch des Kindes in die Welt nur als Zwischenstation gesehen, der zwingend ein zweiter Akt mit seinen Erfahrungen in der Welt draußen folgen muß. Kinder orientieren sich in erster Linie an der Entwicklung von Beziehungen zwischen den Menschen, die sich durch die Geschichte auf der Bühne entwickeln, erst in zweiter Instanz an den theaterspezifischen Aspekten der Aufführung. Wurde die Forderung nach Authentizität auf der dramatischen Ebene eingelöst, akzeptieren die Kinder im Bühnenbild und bei der Wahl der Kostüme auch Lösungen, die in ihrer Realität nicht vorkommen. Ebenso wird eine Erzählerfigur, die zwischen Publikum und Bühne vermittelt oder einen Rückblick auf die Bühnenrealität ermöglicht integriert. Der Autorin und ihrem dramatischen Entwurf kommt eine für das Kindertheater entscheidene Bedeutung zu, die einerseits durch das Regiekonzept beeinflußt wird, andererseits durch die Kinder selbst Es ist kein Kind wie das andere. Auch die Wirkung von Theater auf Kinder ist damit immer eine individuelle. Dazu gibt es regionale, geschlechtsspezifische und altersabhängige Unterschiede in der Aufnahme des Bühnengeschehens durch Kinder. Die - mentalitäts- oder sozialisationsbedingte - Differenz in der Spielfähigkeit der Kinder steuert den Umgang mit Theater mehr als das Theaterangebot selbst. Die Berliner Kinder behielten so ihren spontanen Umgang, die Münchner Kinder ihren reflexiven Umgang bei unterschiedlichen Inszenierungen bei. Die Mädchen haben sich eher mit dem Kind auf der Bühne identifiziert als die Jungen. Und die jüngeren ZuschauerInnen von sechs bis sieben Jahren haben das Stück für sich mit der Rückkehr des Kindes in die Familie beendet, während die Elfjährigen den Aufbruch des Kindes in die Welt mitgemacht haben. Kindertheater ist Familientheater, also auch Elterntheater. Kinder wollen mit ihren Geschichten ernst genommen werden, die Eltern sollten sich ihr Theater auch anschauen. Dabei bleiben die Sichtweisen verschieden. Auch wenn die Kinder sagen: "Das ist ja wie bei mir Zuhause!", halten die Eltern - manchmal - die Darstellung der monströsen Antimütter und der nicht viel besseren Väter nicht aus. Kindertheater, das Stellung nimmt für die Position der Kinder, entfaltet seine Wirkung also in der Familie. Die Eltern sind gefordert, sich auf die Sichtweise der Kinder einzulassen. Inwieweit werden Kinder durch häufigen Theaterbesuch in ihrer ästhetisch-künstlerischen Genußfähigkeit positiv beeinflußt und inwiefern unterscheiden sich beim gemeinsamen Theaterbesuch die Sichtweisen von Erwachsenen und Kindern? Auf diese Fragen gibt die vorliegende Untersuchung von Kristin Wardetzky nur ansatzweise Auskunft. Eine weiterführende Studie zum Verhältnis von Theater und Schule soll auch hierzu neue Einschätzungen ermöglichen. Die Rezeptionsuntersuchung war Bestandteil eines zweijährigen Projektes des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland in Frankfurt am Main, das vom Bundesministerium für Frauen und Jugend gefördert wurde. Die Ergebnisse sind zusammen mit einer Darstellung der Theaterarbeit in Berlin und München enthalten in Band 25 der Schriftenreihe der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung: Kinder im Theater. Dokumentation und Rezeption von Heleen Verburgs 'Winterschlaf' in zwei Inszenierungen. Herausgegeben von Jürgen Kirschner und Kristin Wardetzky. Frankfurt am Main und Remscheid 1993. 280 S. (20,5 x 24,8 cm) mit ca. 90 Abb., ISBN 3-924407-28-2. 25,- DM. Ergänzend sind für 100,- DM die Videodokumentationen der beiden Inszenierungen zu beziehen, die für Einrichtungen der Aus- und Weiterbildung bzw. zur wissenschaftlichen Nutzung verfügbar sind. Sie wurden 1992 mit Unterstützung der Deutschen Film- und Fernsehakademie (Berlin) bzw. der Hochschule für Fernsehen und Film (München) produziert. |
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