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EREIGNISSE
 

Augenblick mal !
6. Deutsches Kinder- und Jugendtheater-Treffen
vom 5. bis 10. Mai 2001 in Berlin
 
Inszenierungen

 


Hans Otto Theater Potsdam
 


Shocking Heads
 


nach nach "Der Struwwelpeter" von Dr. Heinrich Hoffmann
 


Autor: Alexander Hawemann und Gerd Knappe
 


Regie: Alexander Hawemann
 


Darsteller: Jutta Eckhardt, Ute Fiedler a. G., Robert Kuchenbuch, Roland Kuchenbuch, Thomas Mathys, Peter Pauli
 


Bühne: Sibylle Gädeke
 


Kostüme: Sibylle Gädeke
 


Dramaturgie: Michael Philipps
 


Sprache: deutsch
 


ab 13 Jahre
 


Dauer: 100
 


Rechte: bei den Autoren
 



Votum:
Der Untertitel führt auf die falsche Fährte, denn schlagende, grölende Jugendliche, denen die anderen hilflos gegenüber stehen, sind in dieser Inszenierung nicht zu sehen. Hier sind es die anderen, die Geradlinigen, die Durchschnittlichen, die Mittelmäßigen, die das Maß bestimmen, die die drei Jungen - Struwwelpeter, Paulinchen, Hansguckindieluft - in ihre Norm drücken, quetschen, pressen, schlagen. Der Auftrag: aus ihnen ein nützliches Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zu machen. Dies Schlag-Wort läßt den historisch gewachsenen Bürger lächeln. Das ist doch Schnee von gestern! Ist es eben nicht. Denn was heißt das - ein nützliches Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft sein? Wohin führt die Unterweisung in Demokratie? Welche Demokratie? Die Inszenierung gibt sich anarchistisch provokant. Die Fassung des Potsdamer Theaters hat sich dem Kinderbuch und dessen Schwarzer Pädagogik angenommen und darüber hinaus die Biographie des Autors Dr. Heinrich Hoffmann untersucht. Entstanden ist ein fulminanter, hoch artifizieller Theaterabend für Jugendliche. In seiner Wucht - ein neuer, ein anderer Sturm und Drang. Entscheidend ist die ureigene Entscheidung, gefragt ist die persönliche Wahl. Wohin mit seinem Leben? Wie leben? Die Figuren auf der Bühne antworten jede für sich: die eine geht durchs Feuer aus dem Leben, der andere wird zum Funktionsteilchen der Menschmaschinen. Dem sterilen Anstaltsraum mit seinen in uniformiertem Schwarz gekleideten Pflegern und Unterweisern stehen die zu therapierenden Wilden gegenüber. Wie von unsichtbaren Händen werden die Türen hinter ihnen geöffnet und geschlossen: sie sind eingesperrt auf der Bühne. Die ist Gefängnis, Zuchtanstalt, Prügelbank. Eine Flucht aus dieser erzieherischen Folter bleibt ihnen nur in Träumen, in denen sie sich für Augenblicke befreien können. Und doch sind diese Träume als ein von den Gesetzgebern kalkulierter Ausbruch erzählt. Der Traum gemalt in den Bildern des Anstaltleiters - wie frei ist die Freiheit. Immer wieder leuchtet ein Stück Werther durch diese drei Figuren. Die Inszenierung setzt auf einen hohen Grad von Körperlichkeit als Ausdruck der Deformation. Kreatürlich bis monströs agiert ein brilliantes Ensemble auf beiden Seiten: beide sind ihrer Menschlichkeit beraubt, Folterer wie Gefolterter. Der Regisseur treibt in Gruppentherapieszenen, Rückblenden und Ausbrüchen die Normierungversuche am Menschen in seine Extreme. Ein Abend, der Haltung vom Zuschauer verlangt, ihn zwingt, sich zu positionieren: gehen oder bleiben, verweigern oder einlassen. Wenn er denn bleibt, sich einläßt, besteht die Möglichkeit, sich auf die Spur zu kommen, über sich zu stolpern und als ein klein wenig Anderer den Abend zu verlassen. Das ist politisches Theater. Die Produktion steht derzeit nicht mehr auf dem Spielplan des Potsdamer Hauses. Schade. Denn sie ist in ihrer Radikalität auch nach Sichtung von weit mehr als einhundert Inszenierungen das Besondere, das Eigenwillige, das nicht Loslassende geblieben. Warum aber ist dieser Eigensinn, dieses Bedürfnis mit unserer sanktionierten Realität in den Widerspruch zu treten, so selten? Gibt es so wenig zu verhandeln? Will man sich besser nicht positionieren und den Streit vermeiden? Denn Streit kann eine häßliche Fratze tragen. Die verträgt sich nicht mit einem humanen Antlitz, nicht mit einem Körper, der die Pille der political correctness geschluckt hat. Alexander Hawemann gelingt es, die Deformation des Menschen zugunsten einer Ordnung zu beschreiben, die den Menschen verschlingt, ihn durchsichtig macht. Und er erzählt das Scheitern sich auszuprobieren, zu sich zu finden, wenn man dieser Ordnung, diesem Maßstab unterliegt, danach strebt, aber sich nicht finden kann darin. Was macht man dann? Welches Leben liegt jenseits davon? Es ist diese Sehnsucht, mit der wir entlassen sind. Wie sind die Muster zu sprengen? Was muß geschehen, um wirklich aufzubrechen? Was muß man hinter sich lassen, lange nachdem das Wissen darüber bereits eingestanden ist? Welche undenkbaren Formen von Leben warten auf uns und wo? Die Lösung ist nicht im Kopf zu finden, in diesen schmalen Kanälen des ewig Durchgekauten. Bleibt: das Erleben erleben.
Karola Marsch
 



... This production is anarchistic and provocative. This Potsdamer theatre interpretation of the popular children's book not only fully absorbs its black pedagogy, but pushes beyond to dissect the biography of its author, Dr. Heinrich Hoffmann. The result is a brilliant, disturbingly artificial evening at the theatre for young people. Its power obliterates and redefines our understanding of "Sturm und Drang". Decisive is our own primal decision, required is our own personal choice. Where do we go with our lives? How do we live? Each figure on the stage offers a different answer: one extinguishes life with fire, one becomes a mere functioning component in the machinery.
The sterile room of the asylum and the black uniformed nurses and instructors contrast starkly with the wild, unruly patients here for therapy. The doors behind them are open and closed by invisible hands. They are trapped on the stage: a jail, a correction institute, a place for corporal punishment. Escape from this educational torture is reserved to their dreams - far and few between moments of cherished freedom. But alas, even these dreams are dictated by the lawmakers. Calculated break outs. Dreams illustrated by the images of the institute's director himself. How free is freedom? Again and again a glimpse of Werther shines through these three figures.
To express the deformation of repression, the production is reliant on a high degree of physicality. Ranging from the animal to the monstrous, both sides of this exceptionally talented ensemble are stripped of their humanity, whether the torturer or the tortured. Director Alexander Hawemann pushes attempts to "normalise" humans to the extreme: from group therapy scenes to flashbacks and break outs. This is an evening that demands the audience to make a choice, forces us to take a position: to stay or go, resist or condescend. If we stay and condescend, the possibility looms of catching ourselves off track, of stumbling over ourselves and, with new insight, to become a slightly different person.
This is political theatre. At the moment the production is no longer running at the Potsdamer Theatre. Pity. Something this radical can be seen a hundred times and still be alarming, still ooze with originality, still captivate. Why then is this unconventionality, this instinctual need to counter the censorship of our reality so rare? Is there so little room for negotiation? By not taking sides are we skirting around the issues? Are we so desperately afraid to face the facts? It's true, confrontation can be ugly. Especially when we've grown accustomed to the humane pleasantries of political correctness.
Alexander Hawemann succeeds in revealing the deformation humans undergo when forced to comply to the status quo. They are devoured and sucked dry to point of transparency. He shows what can happen when we, meaning only well, attempt to comply and fail: in the hopes of shaping an identity close to our true inner core yet still acceptable to the norm we lose ourselves completely. What then? Is there a life after such failure? We are left with exactly this yearning. How to burst out of the matrix. What we have to do to truly escape. What we have to leave behind - although, if we are honest, we've long since figured it out. What unimaginable forms of life are waiting for us. And where. The solution is not to be found though contemplation, in these constricting corridors of the eternally re-digested. The obvious prevails: to experience experience.
Karola Marsch
 



Zum Stück:
"Der Struwwelpeter" ist mit einer geschätzten Auflage von 25 Millionen wohl das berühmteste Kinderbuch der Welt. Neben seinem großen Unterhaltungswert hatte und hat dieses Buch seit Generationen auch immer den pädagogischen Zweck, aufbegehrende, unangepaßte Kinder dem bürgerlichen Tugendkatalog der Erwachsenen zu unterwerfen. Welche Folgen diese Unterwerfungsakte damals wie heute bei den Heranwachsenden hatten und haben, wie sie zu Verweigerung, Renitenz, ja Gewalt führen, das zeigt diese Version des "Struwwelpeter".
Es spricht vieles dafür, den "Struwwelpeter" nicht nur als Kinderbuch zu betrachten. So hat der Regisseur Alexander Hawemann sein Hauptaugenmerk auf den pädagogischen Zweck, Kinder dem bürgerlichen Tugendkatalog der Erwachsenen zu unterwerfen, und dessen Folgen gerichtet. Ihn interessieren die Heranwachsenden damals wie heute, die eine derartige Erziehung "genossen" haben, die mitunter zu Verweigerung, Renitenz und Gewalt führt.
 



Hans:







gestern habe ich einen drachen gesehen
ach was für ein drachen
ach war der schön
einmal ein drache sein
brüllen schreien fliegen
feuer speien
feuer kam aus seinem schlund
das feuer war ganz bunt
Gerd Knappe: Struwwelpeter
 



With an estimated 25 million copies sold, "Struwwelpeter" (Shock-headed Peter) can certainly be considered one of the most famous children books in the world. Aside from being highly entertaining, it has also served the educational end of showing what can happen to rebellious, non-conformist kids when they don't adhere to the "catalogue of virtues" set down by the adult status quo.
Submission to the status quo, however, can also have a devastating effect. Children forced to "fit into the mould" can often later become disobedient in more serious ways, even refractory or violent. This version of "Shock-headed Peter" addresses this "darker side" of conformity. There are many reasons why "Struwwelpeter" should not be considered only a children's book. By focussing the audience's attention on the story as a mere means to an educational end, director Alexander Hawemann explores the consequences submission to the adult's rigid "catalogue of virtues" can have – especially on adolescents. His interest lies in the youths of previous and present generations "fortunate enough" to have a "proper upbringing" and how it not infrequently can result in later disobedience, refractoriness and violence.
 




Ute Fiedler, Thomas Mathys, Roland Kuchenbuch, Robert Kuchenbuch
Foto: © Sabine Gudath
 
 
 
 
Medienecho:
 
 
 
Frankfurter Allgemeine Zeitung
 
 
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