Räume der Kindheit
Theater zwischen Dienstleistung und Sehnsucht

Frage an ein Kinder- und Jugendtheater: "Macht Ihr Zielgruppentheater oder Kunst?" Antwort: "Ja!"

Eine ehrliche, eine konkrete Antwort auf eine falsche Frage. Mit dieser Antwort hätten wir schon einmal ein Problem gelöst. Ein Scheinproblem, das noch immer viel Diskutierkraft bei den Theaterleuten bindet. Dabei ist doch längst die Spielplannotiz ‚Theater für Menschen ab …‘ gängige Praxis. ‚Was ist Jugendtheater? Gibt es überhaupt Jugendtheater?‘ Noch solche Fragen, die sich die Auswahlkommission nicht gestellt hat. Jedenfalls nicht so theoretisch. Lust auf’s Theater, Neugier auf die Welt: so sind wir einfach losgefahren in ein uns nicht ganz unbekanntes, aber doch nur in Umrissen bekanntes Kindertheaterland Deutschland zwischen Parchim und Oberhausen, Flensburg und München, Senftenberg und Freiburg, Konstanz und Dresden, Bremen und Berlin.

Der erste Eindruck, nach einigen Reisewochen, nach Erfahrungen mit Umsteigebahnhöfen wie Doberlug-Kirchhain oder Calau, nach organisierten Erlebnisfahrten zu Spielorten, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln praktisch nicht zu erreichen sind: wahre Theaterfülle! Kinder- und Jugendtheater in Deutschland bedeutet: ein reichgedeckter Tisch. Darauf kam noch Ungenießbares, etliche Hausmannskost, vor allem aber Wohlschmeckendes. Zubereitet mit Zutaten aus aller Herren Länder.

Eine Auswahlkommission, selbst wenn sie offiziell nicht Jury heißt, sie sucht immer das Besondere, das besonders Gelungene. Das Besondere am deutschen Kinder- und Jugendtheater ist, daß das Besondere selten ist. Dafür steht die Alltagsarbeit auf einem, bei allen noch folgenden Einschränkungen, erstaunlich hohen Niveau. Beides ist ein Problem für eine Auswahlkommission.

Anfangs waren wir etwas maßlos in unseren Absichten: wir wollten jede Form von Theater wahrnehmen, das von Kindern und Jugendlichen beachtet wird. Egal, ob von Menschen oder Puppen, von Profis oder Laien, von Kindern oder Erwachsenen gespielt. Egal, ob Sprech- oder Musiktheater, ob Tanztheater oder Genremix. Gleich, ob freie Gruppe oder vierte Sparte, ob Spezialtheater für die junge Generation oder Stadttheater mit einer Erfolgsproduktion für Jugendliche.

Das haben wir nicht geschafft, weil die etablierte Kinder- und Jugendtheater-szene qualitativ und quantitativ einfach zu umfangreich ist. Wir haben knapp 200 Aufführungen besucht. Am Schluß standen acht völlig einmütig nominierte Inszenierungen. Jede von ihnen ganz anders als die anderen, jede ein ganz eigenständiger ästhetischer Entwurf, jede die Träume und Räume für junge Menschen in unserer Gesellschaft mit poetischer Wirklichkeitssicht betrachtend.

Hinter dieser Auswahl dann eine Reihe weiterer, besonderer, aber nicht ganz so eigenständig gelungener theatralischer Entwürfe, und dahinter die große Zahl der guten Inszenierungen, von denen ich eingangs sprach. Besonders im Kinder-theaterbereich ist die Qualitätsdichte erstaunlich. Doch der Entdeckerwunsch und der Erfindungsreichtum, sie sind weniger ausgeprägt als derzeit beim Jugendtheater.

Unsere Auswahl ist nicht kulturpolitisch ausgewogen, sondern von subjektiver Theaterleidenschaft bestimmt. Was vielleicht nicht der schlechteste kulturpolitische Impuls ist.

In der Draufsicht erweist sich das deutsche Kinder- und Jugendtheater als ein Dramaturgen- und Autorentheater. Wohlgedacht und gut konstruiert. Neben den kleinen Situationen werden auch wieder die großen Geschichten versucht. Gespieltes Erzähltheater für die kleinen, die großen Epen in verkleinernder Bearbeitung für die Größeren, die Klassiker in ‚zeitgemäߑ gedachter und gekürzter Form für die ganz Großen. Diese Suche nach zeitgemäßen Klassikerformen führt zu-weilen noch zu kabarettistischen Digest-Versionen, zu nur äußerlich wirksamem Theater. Theater light und aufgemotzt zugleich.

Eine andere Gefahr: die gesuchte, den Stoff fremd machende Form drängt sich vor, szenische Bilder werden von der dramaturgischen Absicht zum Selbstzweck und die Geschichten gehen dabei verloren. Die Geschichte nur als Anlaß für eine Form. Was dabei aus dem Blickfeld gerät, ist das Publikum. Professionelles Kinder- und Jugendtheater wird von Menschen ge-macht, die selber keine Kinder oder Jugendliche mehr sind. Das ist weder eine originelle Erkenntnis noch muß das ein Problem sein. Denn die Theatermenschen haben ja manchmal eigene Kinder, oft holen sie sich zur Anregung fremde, aber in jedem Fall denken sie viel über Kinder und Jugendliche nach. Das merkt man vielen Inszenierungen an: sie wirken ungeheuer durchgedacht. Sie sind, bei aller poetischen Verkleidung, oft mehr Dienst-leistungsangebot denn Sehnsuchtsbild. Eine Verallgemeinerung, ich weiß. Vielleicht in dieser Pointierung auch etwas ungerecht. Doch die jahrelangen Diskussionen über ‚Kunst oder abbildrealistisches Theater‘ haben auch merkwürdige formalisierende Inszenierungsformen hervorgebracht, in denen der fremde Blick nicht zu neuen Erkenntnissen, sondern nur zu den alten Formen führte (wie wir sie vom sogenannten Erwachsenentheater längst kennen).

Verblüffend immer wieder, daß die von Jugendlichen gelebte Kultur, dieser Mix aus Pop und Techno, Club und Disco, Film und Fernsehen, daß diese Kultur im etablierten Kinder- und Jugendtheater nicht vorkommt. Noch nicht einmal, indem das Spezifische des Theaterspiels bewußt eingesetzt wird gegen eine bei Jugend-lichen verbreitete mediale Wahrnehmungsweise. Jugendszene und Jugendtheater finden meist nur im Theaterjugendclub zusammen. Dort aber, wo Theater seine ganz eigene Formensprache entwickelt, wo es zugleich live-haftig ist, wo eine Form durchgespielt wird, da muß kein Publikum im Klassenverbund ins Theater gezwungen werden. Unsere Auswahl präsentiert Beispiele für diese Art von zugleich zeitgemäßem wie bewußt traditionellem Theater.

Was noch immer zu selten stattfindet: die Genreüberschreitung. Tanz, Musik, Pantomime und Sprechtheater, sie verschmelzen noch kaum in Inszenierungen des Kinder- und Jugendtheaters. Bei tanztheatralischen Versuchen, noch recht unterschiedlich gelungen, tun sich die freien Gruppen hervor, bei musiktheatra-lischen die etablierten Bühnen, mit recht biederem Ergebnis.

Der Schauspieler: Chance und Problem des Kinder- und Jugendtheaters. Noch immer gibt es die berufsmunteren Kinder- Darsteller mit Zöpfchen und Kieksstimme, die Pippi-Langstrumpf-Imitate. Noch immer sind die Kinder- und Jugendtheater eine Art Durchlauferhitzer für das sogenannte Erwachsenentheater. Noch immer fallen in sonst guten Inszenierungen schauspielerische Mängel auf. Doch vor allem bei den Kindertheatern und hier besonders bei freien Gruppen hat sich eine zugleich aus der Individualität der Darsteller wie aus dem phantasievollen Requisitenspiel entwickelte unaufwendige Schauspielerei entwickelt, ein deutlich aus der Vor-Spiel-Lust geborenes reflektierendes Spiel für Kinder. Das ist eine kleine, eine zugleich sehr hohe Kunst.

Und der Griff bei den Jugendtheatern zum Klassiker mit den reicheren, mehr-schichtigen Rollen, er wird bei manchen Theatern erfolgreich mit der Absicht getan, künstlerische Potentiale zu entwickeln. Daß sich dabei die Konturen des Spezial-theaters Jugendtheater verwischen, ist das kleinere Übel. Der oft aus der (finanziellen und organisatorischen) Not geborene ‚Trend‘ zum Erzähltheater, zum Ein- oder Zweipersonenstück hat beim Kindertheater auch gutes bewirkt. Wer Mäkalas ‚Fluß-pferde‘, egal in welcher Inszenierung, einmal gesehen hat, wird gemerkt haben, wie hier das ganz auf die kindliche Wahrnehmung abzielende Schauspieler-Spiel zugleich in emotionale Tiefendimensionen vorstoßen und sich in theatraler Komik entfalten kann.

So bietet die deutsche Kinder- und Jugendtheaterlandschaft nicht nur ein vielfältiges, sondern auch ein erfreuliches Bild. Etwas zu ruhig, etwas zu solide ist es. Die Entdeckerleidenschaft der Theatermacher scheint im Alltag eingeschlafen.

Der Alltag bietet dabei ein unvergleichbares Bild. Morgens um neun Uhr in einer mittelgroßen Stadt. Gruppenweise, über-motorisch und lautstark strömen Neunjährige ins Puppentheater. Der Geräusch-pegel ist hoch, die Bänke sind hart, das Schokopapier knistert und die Gameboys piepsen. Wer vor diese Zuschauer tritt, muß Leidenschaft und Härte, Spiellust und Sensibilität besitzen.

Abends kurz vor acht in einer mecklenburgischen Kleinstadt. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Theater begegne ich drei Katzen und zwei Menschen. Im Theater dann eine kleine, jugendlich verschworene Gemeinde. Das Theater: Kneipe, sozio-kul-tureller Treffpunkt, Theaterort. Wichtiger, daß gespielt wird als was... Wobei die Themen im Kinder- und Jugendtheater immer die gleichen zu sein scheinen: Liebe und alle anderen möglichen indivi-duellen zwischenmenschlichen und familiären Konflikte.

Augenblick mal: haben wir nun Entdeckungen gemacht? Ich hoffe es. Es war nicht einfach. Weil sich der (hauptberuf-liche) Kritiker im Juror von seinen Kritikerkollegen doch arg alleingelassen fühlte. Eine kontinuierliche, kritisch reflektierende Berichterstattung über Kinder- und Jugendtheater gibt es in den deutschen Medien nicht. Die kritische Gegenöffent-lichkeit fehlt den Theatern, und der Juror besaß von dort keine Orientierungspunkte. Die durchaus vorhandene Diskussion im Kreis der Kindertheater und ihrer Organi-sationen kann kein Ersatz sein. Weil sich die Szene noch immer als öffentlich nicht ausreichend wahrgenommen und gewürdigt empfindet. Und deshalb mehr als Kampfgemeinschaft oder große Familie mit festen Rollenzuweisungen versteht. Dabei ist sie viel besser als sie sich fühlt. (Auch wenn sie sich manchmal wieder für zu gut hält. Was auszuhalten ist.)

Nur einmal war das Jurorenwesen schier nicht auszuhalten. Da saßen wir drei einmütig versteinert im Stuttgarter Schauspiel und erduldeten ein Stück namens ‚Rulaman‘, das nicht nur mit allen (bonbon)ranschmeißerischen Bedientheater-Unsitten ausgestattet war, sondern das von einer hanebüchenen inszenatorischen, dramaturgischen und choreographischen Fahrlässigkeit geprägt war. Eindeutig die schlechteste der von uns gesehenen Aufführungen. Nicht etwa, weil als Musical gedacht, sondern als Kinder-Benutz-Theater gemacht. Da benutzt das große Theater seine kleinen Zuschauer wieder mal nur, als kulturpoli-tische Zählmasse. Dafür drei dicke gelbe Zitronen!! Das Kinder- und Jugendtheater ist da in jeder Hinsicht ehrlicher und weiter. Wenn auch manchmal zu ernsthaft.

Was ich mir wünsche: mehr Lust auf Spiel und Theatralität. Was unsere Auswahl bemerkenswerter Inszenierungen vereint, ist gerade diese Lust am sinnlichen Spiel, dieses Verständnis von äußerer Form als Spiel-Mittel für Inhalte. In diesem Sinne verstehen wir sie durchaus als beispiel-gebend. Aber auch als diskutierbares An-gebot.

Bericht der Auswahlkommisson
Hartmut Krug
Augenfüßler